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Titel
The Capital Order. How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism


Autor(en)
Mattei, Clara E.
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
$ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leon Wansleben, Max Planck Institute for the Study of Societies, Köln

In dem auf ihrer Promotion beruhenden Buch The Capital Order rekonstruiert Clara Mattei die dramatischen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, von Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklassen zu konservativen Gegenrevolutionen in Großbritannien und Italien. The Capital Order beansprucht jedoch, mehr als eine vergleichend-historische Studie zu Wirtschaftspolitiken der 1920er-Jahre zu sein. Die vielschichtigen Austeritätsmaßnahmen dieser Zeit, so Mattei, seien der Anfangspunkt für ein hundertjähriges technokratisches Projekt, um Kapitalismus alternativlos zu machen und seine internen Klassenbeziehungen zu zementieren. Diese über den historischen Gegenstand weit hinausgehende These hat sicherlich zum Erfolg und der hohen Sichtbarkeit der Publikation beigetragen. Mattei ist in gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Debatten, etwa über die jüngste Einigung im Streit über Amerikas Schuldengrenze, äußerst präsent.1 Die allzu einseitigen Generalisierungen und im Titel reflektierten analytischen Kurzschlüsse bezüglich der Kausalität zwischen Austerität und Faschismus machen aber auch die Schwächen einer sehr lesenswerten und historisch profunden Arbeit aus.

Der Ausgangspunkt von Capital Order ist so plausibel wie konventionell. Der „Great War“ habe, so die Autorin, eine Abkehr von lassez-faire-Politiken des späten 19. Jahrhunderts und der Goldstandard-Ära erzwungen. Überall – in der industriellen (Rüstungs-)Produktion, der Organisation von Arbeit und Versorgung der Bevölkerung –, trat der Staat als steuernder, kontrollierender Akteur auf den Plan. Diese neue Sichtbarkeit des Staates und die Stärkung der Machtposition von Arbeiter:innen aufgrund hoher Nachfrage und der Ausweitung politischer Rechte führte zu einer sozialdemokratisch orientierten Reformbewegung, die allerdings bald in interne Widersprüche geriet. Einerseits beanspruchte die aufgeklärte Reformelite (etwa in dem Britischen Ministry of Reconstruction oder dem italienischen Gesundheitsministerium) im Interesse der Mehrheit soziale Sicherungsnetze wie Arbeitslosenversicherungen und Krankenversicherungen zu institutionalisieren. Andererseits ging es laut Mattei auch um die Eindämmung sozialistischer Bestrebungen und damit die Aufrechterhaltung der grundlegenden Produktionsbedingungen und Klassenrelationen (S. 70).

Die Zuspitzung dieser Widersprüche in den „roten Jahren“ führte nach Mattei dann schließlich zu einer konservativen Gegenrevolution. Nationalisierungsbestrebungen (etwa im Sektor der Kohleförderung), Fabrikbesetzungen (wie bei Fiat in Turin), die Gründung von Arbeiterräten und genossenschaftlichen Betrieben im Zeitraum 1919/20 riefen Kapitaleigentümer auf den Plan und schufen eine allzu mächtige Gegenallianz zwischen ihnen und einem Großteil der politischen Elite. Das Resultat waren Austeritätsmaßnahmen auf drei Gebieten: Veränderungen im Bereich industrieller Beziehungen, die die Arbeiterrechte einschränkten, Betriebe privatisierten und die proletarische Verhandlungsmacht schwächten; drastische Sparpolitiken, die nicht nur Sozialprogramme zurückrollten, sondern auch zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beitrugen und damit industrielle Machtverhältnisse verschoben; und schließlich Schritte zur Wiedereinführung des Goldstandards, die mit deutlichen Lohnreduktionen und vergrößerter Arbeitslosigkeit einher gingen.

Mattei argumentiert, dass die Durchsetzung von Austerität in Großbritannien und Italien unterschiedliche Wege nahm, aber letztlich einem gemeinsamen Ziel diente: mithilfe wirtschaftlicher und politischer Repression die „rote Gefahr“ zu bannen und die Interessen der Kapitaleigentümer zu wahren. Für den britischen Fall argumentiert sie, dass das Finanzministerium und die Zentralbank die wesentlichen Protagonisten gewesen seien, die auf eine vermeintlich apolitische Markt- und Fiskaldisziplin zur Durchsetzung ihrer Klassenpolitik setzten. Für den italienischen Fall rekurriert Mattei auf bisher unbeachteten Schriften von liberalen Ökonomen wie Alberto di Stefani und Luigi Einaudi, um aufzuzeigen, dass diese sich in eine politische Allianz mit Benito Mussolini begaben, um mithilfe faschistischer Repressionsmaßnahmen ein radikales Austeritätsprojekt durchzusetzen. Teil dieser Allianz war aber auch die internationale „liberale“ Elite, wie etwa der bekannte Notenbankchef der Bank of England Montagu Norman oder die amerikanischen Bankiers von J.P. Morgan, die Mussolini stützten, um ihre Handels- und Kreditbeziehungen mit Italien zu sichern.

The Capital Order bietet eine sehr gut lesbare, anschauliche und klare Rekonstruktion einer kritischen Phase der kapitalistischen Moderne. Allerdings unternimmt Clara Mattei viel zu wenig, um die über diese Darstellung hinausgehenden Kausalitätsbehauptungen zu qualifizieren und kontextualisieren. Dies beginnt schon beim Untertitel How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism. Es ist offensichtlich, dass die harten Austeritätsmaßnahmen in Großbritannien (etwa die radikalen Haushaltskürzungen von 1921, berüchtigt als „Geddes Axe“; oder die Deflationspolitik der Bank of England) nicht in den Faschismus führten. Doch selbst auf den italienischen Fall gemünzt bleibt der Titel falsch: Es gibt keinerlei Evidenz dafür, dass die von den liberalen Ökonomen befürworteten Austeritätsmaßnahmen dem Faschismus den Weg bereiteten. Vielmehr zeigt Mattei, dass diese Ökonomen sich mit Mussolini zur Durchsetzung dieser Maßnahmen arrangierten. Wenn überhaupt, würde der Titel auf das Deutsche Reich zutreffen, dann aber im Sinne einer faschistischen Gegenbewegung gegen die Goldstandard-Ordnung und ihre katastrophalen Folgen. Der deutsche Fall und die drastischen Sparpolitiken unter Reichskanzler Heinrich Brüning Anfang der 1930er-Jahre werden aber in The Capital Order nicht erwähnt.

Ein zweites Problem: Mattei verzichtet fast gänzlich darauf, ihre Analysen in existierende Forschungen und Positionen einzuordnen. Das Buch erweckt den Anschein, als sei es der erste Versuch, die politische Bedeutung von Austeritätspolitiken in der Zwischenkriegsphase herauszuarbeiten. Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Karl Polanyis The Great Transformation und The Capital Order werden zum Beispiel überhaupt nicht diskutiert. Matteis Argument bezüglich der 1920er-Jahre hätte zudem gewonnen, wenn sie andere Erklärungsversuche, etwa mit Bezug auf die mangelnden wahrgenommenen Alternativen für Staaten mit erheblichen externen Schulden oder die eher aus der Ideengeschichte stammenden Analysen über den Einfluss klassisch-liberaler Wirtschaftswissenschaften, zugunsten ihrer klassenpolitischen Perspektive entkräftet hätte.2 Dort, wo Behauptungen bezüglich der empirischen Innovativität der Arbeit gemacht werden, sind diese nicht immer zutreffend. Dass beispielweise die Rolle unabhängiger Notenbanken bei der Durchsetzung von Deflationspolitiken in dieser historischen Phase vollkommen unerforscht sei (S. 165), ist schlicht falsch.3

Am meisten stößt aber die überzogene These von „austerity forever“ auf – einem anhaltenden elitären Projekt zur Aufrechterhaltung kapitalistischer Ordnung mithilfe von Austeritätspolitiken. Man traut sich kaum, diesen allzu offensichtlichen Punkt zu nennen: Ein kurzer Blick auf Statistiken zu öffentlichen Ausgaben und staatlichen Schulden zeigt einen grundsätzlichen Trend nach oben, wenn auch mit einigen Brüchen. Selbst in der „neoliberalen Phase“ von 1980 bis zur Covid-19 Pandemie sind Sozialausgaben im Verhältnis zur Bruttowirtschaftsleistung unter den OECD-Staaten gestiegen, von 15 auf 20 Prozent.4 Bei aller notwendigen Kritik an „corporate welfare“: Die Maßnahmen während der Covid-19-Pandemie brachten eine relativ deutliche Ausweitung von Sozialausgaben, auch in den USA.5 Dies heißt nicht, dass es keine brutalen und verteilungspolitisch regressiven Reformen gab und gibt; aber die einseitige Formel von „austerity forever“ taugt nicht, um diese Reformen einzuordnen.

Probleme gibt es zuletzt auch bezüglich des kausalen Mechanismus. Es ist richtig: Monetaristische Interventionen wie diejenige des Federal-Reserve-Präsidenten Paul Volcker 1979, Sparmaßnahmen wie diejenigen unter dem Britischen Finanzminister George Osborne oder Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt sind immer auch klassenpolitische Interventionen, die die ökonomische und politische Macht der Kapitalbesitzer gegenüber Arbeiter:innen stärken. Die Missachtung dieser klassenpolitischen Dimension ist sicherlich eine Schwäche der konventionellen Wirtschaftswissenschaften. Doch einerseits kollabiert Mattei bewusst Motive und Konsequenzen. Zu behaupten, dass Austeritätsmaßnahmen in Wahrheit niemals (sic!) zur Eindämmung von Inflation und Defiziten beschlossen worden seien (S. 271), ist inkorrekt. Andererseits verkompliziert sich das klassenpolitische Bild, wenn man in Rechnung stellt, dass nicht Austerität, sondern der Aufbau und die Ausweitung des Wohlfahrtsstaats sowie keynesianische Kriseninterventionen einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung des Kapitalismus und seiner inhärenten Klassenverhältnisse geleistet haben. Wenn klassenpolitische Interessen mit anderen Mitteln als direktem „class warfare“6 bedient werden können, braucht man ein umfassenderes theoretisches Vokabular zur Analyse des Verhältnisses von Wirtschaftspolitik, Technokratie und Klassenbeziehungen im Kapitalismus, als es Matteis Buch liefert. Schade, dass die Autorin zum Zwecke einer bewussten (publikationsstrategischen?) Einseitigkeit ihrer Argumentation jegliche Qualifizierungen ihrer Thesen ausspart. Plakative Positionierung schwächt eine ansonsten sehr interessante, hervorragend geschriebene Arbeit.

Anmerkungen:
1 Clara Mattei, The US debt-ceiling ‘deal’ was a giant exercise in bipartisan class warfare, in: The Guardian, 14.06.2023, https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/jun/14/us-debt-ceiling-bipartisan-class-warfare (07.07.2023).
2 Marc Buggeln weist etwa darauf hin, dass die Verschiebungen von direkten zu indirekten Konsumsteuern, die man auch in Deutschland zu dieser Zeit beobachtet, unter anderem durch die Probleme der Eintreibung von Einkommens- und Kapitalsteuern bei erheblicher Steuerflucht begründet waren. Siehe Marc Buggeln, Das Versprechen der Gleichheit, Berlin 2022, S. 334.
3 Liaquat Ahamed, Lords of Finance. The Bankers Who Broke the World, New York 2009; Martin Marcussen, Central Banks on the Move, in: Journal of European Public Policy 12,5 (2005), S. 903–923.
4 The Economist, “Governments are not going to stop getting bigger”, 20.11.2021.
5 Internationaler Währungsfonds, “Fiscal Monitor: Database of Country Fiscal Measures in Response to the COVID-19 Pandemic”, Stand 05.06.2021.
6 Mattei, The US debt-ceiling ‘deal’.

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